Über Agilität und Innovation
Unter dem wichtigen Vorbehalt, dass meine Erkenntnisse auf Erfahrungen beruhen, die ich in meiner eigenen kleinen Blase gesammelt habe.
In den letzten Jahren habe ich in und für die unterschiedlichsten Unternehmen gearbeitet, angefangen beim hemdsärmligen Mittelständler, über mehr oder weniger sortierte Startups bis hin zu großen Konzernen und Agenturen. Ich erwähne das nicht um zu flexen, sondern um die Bandbreite zu verdeutlichen, auf der meine folgenden Beobachtungen beruhen.
Je größer das Unternehmen, desto weniger ist es in der Lage, innovative Ideen zu entwickeln, zu realisieren, oder sich selber und die eigenen Prozesse zu optimieren. (Was keine allgemeingültige Aussage, aber sicher eine Tendenz ist.)
Woran liegt das? Ich habe bisher zwei wichtige Gründe dafür kennen gelernt:
1. Bürokratie, Compliance & Prozesse
Je größer das Unternehmen, desto weniger individuell sind die Prozesse. Mein Lieblingsbeispiel sind “Code of Conduct” Kurse. Diese behandeln in der Regel vier illustre Themenbereiche: Social Ethics, Business Ethics, Datenschutz, IT-Sicherheit. Gerne gesellen sich auch noch Erste-Hilfe und Brandschutz dazu. Inhaltlich ist an solchen Kursen nichts auszusetzen, jeder sollte sie einmal “besucht” haben. Aber die Inhalte sind oft sehr breit gefächert. So ist z.B. “Bestechung” ein beliebtes Thema, das aber zweifelsohne eine eingeschränkte Zielgruppe bedient. Ganz zu schweigen von der Wirkung: Wenn ich mich bestechen lassen will, hält mich der entsprechende Kurs sicherlich nicht davon ab.
Trotzdem muss sich ausnahmslos jeder damit beschäftigen. Auch die Teilnahme-Pflicht wird oft, wenn nicht immer, nach dem Gießkannenprinzip verteilt: Sie gehören zum On-Boarding dazu; müssen ein mal pro Jahr wiederholt werden. Wechselt man in eine andere Agentur, nimmt man erneut an derartigen Kursen teil. Wechselt man innerhalb der Agentur den Kunden, verlangt der neue Kunde die Teilnahme an seinen “eigenen” Kursen - die inhaltlich natürlich völlig identisch sind.
Die Folge: Frustration, Langeweile und unnötige Kosten. Die Reaktion der Unternehmen: Es wird viel Geld ausgegeben, um die Inhalte in “moderne” Formate zu packen, sie spielerisch oder in “Bühnenstücken” zu vermitteln.
Warum gibt es keinen Code of Conduct Führerschein, ein Zertifikat? Einen Test, der auf mein Fachgebiet zugeschnitten ist, den ich einmal jährlich durchführe und bei Bedarf vorzeigen kann!
Es sind aber auch die Prozesse im Daily Business, die Innovation im Keim ersticken. Ich war einmal für einen großen deutschen Arbeitgeber tätig und wir wollten einen Service aufsetzen, der den Import von CSV-Dateien vereinfacht. Technisch war das nicht weiter aufwendig, die Dateien waren klein, es ging nur um die Anpassung von Spaltennamen. Wir hätten dafür aber einen Dienst benötigt, also einen kleinen virtuellen Server oder Docker-Container, der im Hintergrund läuft. Es hat Monate gedauert, herauszufinden, welche Fachabteilung uns hier weiterhelfen könnte. Letztlich haben wir das Projekt unverrichteter Dinge stoppen müssen. Eine Hürde, die in einem Startup kaum denkbar wäre.
Auf Empfehlung bin ich vor kurzem über einen sehr schönen Vortrag gestolpert, der das Skunk Works Prinzip erläutert, seine Herkunft und Wirkung. Die Idee dahinter ist, grob zusammengefasst: Ein kleines Team von Experten arbeitet unabhängig und möglichst frei von Konzern-Zwängen an einem Projekt.
Eine andere Lösung wäre, U-Boot- oder Pet-Projects nicht nur zuzulassen sondern auch mit der entsprechenden Infrastruktur aktiv zu fördern. Kurz nach meinem Studium, habe ich bei einem schon etwas größerem “Start-Up” gearbeitet und dort irgendwann eine technisch zwar simple Suchmaske implementiert, die die Arbeit im aber Team massiv erleichtert hat. Unnötig zu erwähnen, dass mein Team Lead nicht sehr glücklich über die “falsch” investierten Stunden war.
2. Turf Protection, Betriebsblindheit
Das ist ein Phänomen, dass ich schon sehr oft beobachtet habe, ich nenne es das “Falsche Gallische Dorf”. Ein gallisches Dorf, dass sich gegen die Invasoren wehrt, kann eine gute Sache sein. Aber was, wenn es sich nicht um Invasoren sondern Innovatoren handelt? Neue Ideen werden entweder sehr schnell als negative Kritik an der bisherigen Qualität aufgefasst oder man hat schlicht Angst, seine etablierte Position zu verlieren. Ein gallisches Dorf, dass sich gegen jeglichen Einfluss von draußen auflehnt, hat sich vom Unternehmensziel entkoppelt.
Bestehende Lösungen werden ungern infrage gestellt. Das ist ein großes Problem, vor allem im technologisch Bereich, wo sich im Wochenrythmus neue Möglichkeiten ergeben. Drei Argumente müssen dann herhalten, um sich vor der drohenden Invasion Innovation zu schützen:
- Never change a running system.
- Keine Kapazitäten.
- Zu kompliziert.
Ich will nicht sagen, dass das Motto “Never change a running system” grundlegend falsch ist. Man muss nicht auf jeden Zug aufspringen. Aber irgendwann ist auch der letzte Zug abgefahren. Und ehe man sich versieht, basiert die Lösung auf einer überholten technischen Plattform, die nicht mehr unterstützt wird oder niemand mehr beherrscht. Gerade die Software-Entwicklung krankt an diesem Phänomen: Ein Programm ist niemals fertig.
“Keine Kapazitäten” ist eine Ausrede, die das aktuelle, vielleicht noch nicht bekannte Problem, in die Zukunft verlagert, Aber diese Verlagerung ist nicht linear. Verlagert man zehn Jahre lang jede Anpassung in die Zukunft, verteilen sich diese nicht auf einen Zeitraum von zehn Jahren in der Zukunft. Sie sammeln sich an dem Zeitpunkt, an dem die Zukunft beginnt. Und das ist morgen.
“Zu kompliziert” ist ein Argument, dass sich selber aushebelt. Wenn Anpassungen an der gegenwärtigen Lösung zu kompliziert sind, sollten wir besser früher als später Zeit investieren. Denn auch daran krankt die Software-Entwicklung: Ein Programm wird nur selten mit der Zeit weniger komplex, eher ist das Gegenteil der Fall.
Die Kunst ist also eine agnostische Einstellung wenn es um Wandel geht, ohne sich ihm zu ergeben.