Auch Autisten können weinen
Ich bin 45 Jahre alt. Im Sommer 2024 wurden bei mir Asperger-Autismus und ADHS diagnostiziert. Auch wenn ich den Weg der Diagnose aus freien Stücken gewählt habe, hadere ich mit ihrem Ergebnis und damit, wie ich damit umgehe. Dafür gibt es einige Gründe. Mit diesem Beitrag will ich nicht nur mir selber Klarheit verschaffen sondern auch anderen Menschen, die möglicherweise Ähnliches durchmachen, und meinem Umfeld einen Einblick in meine Erfahrungen und meine Perspektive geben. Denn Verständnis – sowohl für sich selbst als auch von außen – ist ein wichtiger Schritt, um mit einer solchen Diagnose umgehen zu können.
Autismus wird in der Popkultur oft romantisiert dargestellt: hochbegabte Menschen, die verschroben aber liebenswürdig sind. Vor allem in sozialen Medien wird mit den Diagnosen Autismus und ADHS eher kokettiert, anstatt ernsthaft darüber aufzuklären. Autismus als marketingwirksames Prädikat und Alleinstellungsmerkmale für Influencer. Zwar ist es gut, das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für diese Erscheinungen zu stärken, allerdings haftet ihnen damit auch der Ruf einer Modediagnose an. Und diesem Trend wollte (und will) ich mich nicht anschließen, ich fühle mich weder besonders noch hoch- oder inselbegabt.
Die Darstellung in den Medien sorgt dafür, dass Menschen sehr leicht dazu verleitet werden, Autismus auf einige „Wunschsymptome“ zu reduzieren. Wer Gegenstände auf dem Schreibtisch parallel ausrichtet, empfindet womöglich einfach Freude an Ästhetik oder Ordnung. Wer aufgeregt, nervös oder voller Energie ist, hat nicht automatisch ADHS, sondern vielleicht einfach nur einen auffälligen Kaffeekonsum. Die „falscheste“ Reaktion, die ein neurotypischer Mensch zeigen kann, wenn ihm ein Autist von seiner Diagnose erzählt, ist: „Ja, das kenne ich, das mache ich auch!“
Ein weiterer Grund, weshalb ich mit der Diagnose hader(t)e, ist die Schwierigkeit des Perspektivwechsels – eine Herausforderung, egal ob neurotypisch oder neurodivers. Man kann einem Blinden nicht vom Sehen erzählen. Auch wenn mir meine „Problemchen“ bewusst waren, kam es mir immer so vor, als wären sie „normal“ – was auch immer das bedeuten soll. Dass sie aber nicht normal waren, zeigte sich erst, als ich zu einem Perspektivwechsel gezwungen wurde und begann, die Puzzleteile zusammenzusetzen.
Das war vor etwa 10 Jahren der Fall. Anfang 2014 litt ich von einem Tag auf den anderen unter einer sehr schweren Essstörung. Ich hatte Angst, mich zu verschlucken, und konnte deshalb keine feste Nahrung zu mir nehmen. Trinken war nur unter hoher Anstrengung möglich. Diese Essstörung – der Fachbegriff lautet übrigens Phagophobie – begleitet mich bis heute, auch wenn die Symptome bei weitem nicht mehr so drastisch sind wie damals. Vor allem in fremden sozialen Situationen fällt es mir aber immer noch schwer, zu essen. Bis heute fällt es mir nicht leicht, darüber zu reden.
Ende 2022 folgte ein sehr heftiger Nervenzusammenbruch, in dessen Folge ich knapp zwei Wochen in einer psychotherapeutischen Station verbrachte. Die Diagnose lautete (neben anderen) „Anpassungsstörung“. Langsam wurde mir klar, dass etwas in meinem Kopf nicht stimmt. Zu meiner damaligen Partnerin sagte ich einmal unter Tränen: „Ich habe das Gefühl, ich gehöre nicht in diese Welt.“
Erst mit der Autismus-Diagnose begann ich, die Zusammenhänge zu erkennen und die einzelnen Symptome zu verstehen und einzuordnen. Im Folgenden geht es nicht um ein paar unterhaltsame Anekdoten, um etwas zu beweisen. Vielmehr will ich deutlich machen, dass Autismus mehr ist als nach Farben sortierte Bücherregale.
Als ich ein Kind war, haben mich meine Eltern mal auf einen „Spaziergang“ geschickt: Ich sollte um den Block gehen und jeden grüßen, den ich sehe. Ich mache meinen Eltern dafür keinen Vorwurf. Sie haben so gehandelt, um mir soziale Regeln beizubringen. Sie hielten das für eine gute und richtige Maßnahme, weil ich Menschen nicht gegrüßt habe.
Ich kann meinem Gegenüber nicht in die Augen schauen, wenn ich mit ihm oder ihr rede. Ich weiß, dass es eine soziale Konvention ist, also zwinge ich mich dazu. Körperliche Nähe ist mir unangenehm. Ich weiß nicht, ob ich Menschen nickend, mit einem Handschlag, einem High Five oder einer Umarmung begrüßen muss, soll oder darf.
Eine Strategie von autistischen Menschen kann die „Maskierung“ oder das “Spiegeln” sein. Sie eignen sich in sozialen Situationen bestimmte Verhaltensmuster, um sich anzupassen. In der Schule war ich ein Klassenclown – vermutlich, um meine Unsicherheit zu maskieren. Ich finde Smalltalk unangenehm und überflüssig. Gleichwohl erfüllt Smalltalk eine soziale Norm, weshalb ich mir Themen zurechtlege, um Smalltalk zu führen – wider Willen und mit mäßigem Erfolg. Ein ehemaliger Kollege und guter Freund von mir hat einen sehr deutlichen norddeutschen Dialekt, den ich sofort übernehme, wenn ich mit ihm unterwegs bin. Im Kreis meiner Familie wiederum „berlinere“ ich sehr stark und im professionellen Umfeld glänze ich durch perfektes Hochdeutsch.
Auch wenn ich, vor allem während meines Studiums, einen sehr großen Freundeskreis hatte, waren (und sind) soziale Kontakte für mich eine massive Herausforderung. Ich habe regelmäßig Rückzugsorte gebraucht (und brauche sie immer noch), um allein zu sein. Aus dem Grund konnte ich auch lange keine dauerhafte feste Beziehung führen. (Irgendwann kam es dann doch dazu, Respekt an meine Ex-Partnerin…) Früher habe ich mir oft Ausreden einfallen lassen, um an „sozialen Veranstaltungen“ nicht teilnehmen zu müssen. Oft genug fühlte ich mich aber auch dazu genötigt, weil ich unterbewusst einer gesellschaftlichen Norm folgen wollte. Nach 35 Jahren hatte mein Körper dann wohl genug. Er konnte die Dinge nicht weiter „schlucken“.
Ich denke streng rational und logisch. Gleichzeitig fällt es mir aber schwer, die notwendige Geduld aufzubringen, wenn ich das Gleiche nicht bei meinem Gegenüber erkenne. Die vermeintliche „Ignoranz“ der Menschen um mich herum macht mich oft wütend. Vor allem als Vater ist das problematisch, denn Kinder verhalten sich nicht immer rational und fordern stattdessen sehr viel „emotionale Kompetenz“ ein – die mir schlicht fehlt. Übrigens: Autisten sind nicht emotionslos, sie nehmen und drücken Emotionen auf eine andere Weise auf und aus. Auch Autisten können lachen oder weinen.
Ein sehr guter Freund von mir hat mich vor einigen Jahren einmal als Sonderling bezeichnet. Keiner von uns beiden hat das als Beleidigung aufgefasst; es war vielmehr eine liebevolle und pointierte Analyse meiner sozialen Kompetenzen. Gleichwohl bedeutet Asperger-Autismus nicht, sich in Gegenwart von Menschen immer „seltsam“ zu verhalten. Sicherlich kommt es episodisch zu Ausrutschern, die dann ganz einfach als „Schrulligkeit“ oder “Fettnäpfchen” durchgehen. Irgendwann gewöhnen sich die Menschen um dich herum auch einfach daran.
Neben erlernbareren Strategien gibt es durchaus “gewohnte Umfelder”, die mir Sicherheit geben. Denn natürlich gibt es auch Menschen, Freunde und Kollegen, die ich mag, bei denen ich mich wohl fühle. Autismus heißt nicht, keine Freunde zu haben. Ich weiß nun, dass es wichtig ist, zwischen sicherem Umfeld und erzwungener Anpassung zu unterscheiden.
Es gibt daneben auch Symptome, die man auf den ersten Blick als „wertvolle Gabe“ bezeichnen könnte. Ich glaube, dass ich sehr gute analytische Fähigkeiten habe. Ich liebe es, mich mit Computern und Zahlen zu beschäftigen oder komplexe Systeme zu zerpflücken und zu abstrahieren. Während meines Studiums war ich dafür bekannt, zwei Dutzend Vorlesungsfolien über betriebswirtschaftliche Themen auf zwei Grafiken zu reduzieren, die die Zusammenhänge perfekt erklärten. Trotzdem war ich weit davon entfernt, ein guter Schüler oder Student zu sein. Das Gymnasiumn musste ich nach dem dritten Sitzen-Bleiben verlassen. Meine Master-Arbeit konnte ich erst im zweiten Anlauf verteidigen und auch dann nur mit Ach und Krach. Erst wenn ich auf etwas stoße, das mein Interesse weckt, gelingt es mir, in kürzester Zeit in einen Tunnel zu verschwinden und mich ganz darauf zu fokussieren. Auf den Zeugnissen der Grundschule wurde mir das oft als „interessenbezogener Lernwille“ diagnostiziert. Spezialinteresse nennt man das.
Genauso leicht verliere ich das Interesse an einer Tätigkeit aber auch wieder und widme mich einer anderen fixen Idee. Das passiert, wenn ADHS und Asperger aufeinander treffen. Auf meiner Festplatte gibt es einen Ordner, in dem ich diese angefangenen und nur selten beendeten Projekte sortiere. Es sind mittlerweile weit über 100, aus allen möglichen Bereichen.
Dieses Talent, immer neue Themen zu finden und mich in sie einzugraben, ist Segen und Fluch zugleich. Ich verliere sehr schnell das Zeitgefühl, andere wichtige Dinge kommen zu kurz, oder ich komme zu spät zu Terminen. Zudem ist es auch für mich sehr frustrierend und mental anstrengend, wenn in meinem Kopf immer wieder neue Ideen herumschwirren und es mir oft nicht möglich ist, konzentriert zu arbeiten oder – was für mich viel wichtiger ist – ganz bei meinem Sohn zu sein, wenn ich mit ihm spiele.
Seit meiner Diagnose im Sommer 2024 weiß ich nun, warum ich so bin, wie ich bin, und warum ich tue, was ich tue. Ich beginne langsam, es zu akzeptieren und damit umzugehen. Dieser Text soll mir und den Menschen, mit denen ich zu tun habe, dabei helfen.