Die Nerd Enzyklopädie 45 - 80 Spalten und die Legende vom Pferdehintern
Für die einen ist sie unerforschtes Land, für die anderen die linke Westentasche: Die Kommandozeile! Eine Eigenschaft eint die meisten Kommandozeilen-Programme unter Windows, MacOS und Linux: Sie sind in der Standard-Konfiguration 80 Zeichen bzw. Spalten breit. Dieser Standard begegnet einem auch an anderen Orten, wie in Code Editoren oder Style Guides von Programmiersprachen, die 80 Zeichen pro Zeile als sinnvollen Standard beschreiben.
Es gibt viele Erklärungsversuche für dieses Standard-Maß. Der erste liegt in der Lesbarkeit:
Sind die Zeilen zu kurz, muss man beim Lesen öfter die Zeile wechseln, was den Lesefluss erschwert.
Sind sie zu lang, ist es sehr schwer, einzelne Zeilen zu unterscheiden.
In der Typographie gelten deshalb 40 bis 90 Zeichen pro Zeile als sinnvoll, ideal sind mindestens 60 Zeichen [SEMAN1]. Das erklärt allerdings noch nicht, warum wir in der elektronischen Datenverarbeitung 80 Zeichen bevorzugen.
Einer weiterer Grund könnte die technische Limitierung alter Schreibmaschinen sein. Diese konnten in der Regel nur 70 bis 80 Zeichen pro Zeile verarbeiten. Hier spielte auch die Breite des Papiers eine wichtige Rolle: Der US-Standard „Letter“ erlaubte mit seinem 8,5 x 11 Zoll in etwa 85 bis 102 Zeichen pro Zeile bei einer Schriftgröße von 10 bis 12 Punkten. Berücksichtigt man den linken und rechten Rand, kam man auf 55–78 Zeichen pro Zeile [WIKI15].
Und dann gibt es noch diese Erklärung: Das 80-Zeichen-Limit stammte von den Terminals der 1960er und 1970er Jahre. Dort nutze man ebenfalls 80 Spalten bei 24 bis 25 Zeilen. Damit orientierte man sich an den damals üblichen Lochkarten. Lochkarten waren zu dieser Zeit weit verbreitete Datenträger. Sie enthielten auf einer Zeile bis zu 80 Löcher. Zwar gab es auch Lochkarten mit mehr oder weniger Spalten. Aber IBM, damals schon ein Big-Player, hatte 80-Spalten-Lochkarten im Angebot und diese Konfiguration sozusagen als Standard etabliert [WIKI16].
Warum IBM ausgerechnet 80 Löcher pro Zeile wählte, ist nicht sicher belegt. Einerseits aus den oben schon genannten ergonomischen Gründen, sicher aber auch aus technischen Gründen: So konnten genug Löcher mit einer sinnvollen Größe auf dem Standard-Papier untergebracht werden.
Mehr Löcher würden die Integrität der Lochkarten stören, kleinere Löchere wären anfälliger für Fehler und weniger und größere Löcher wären unwirtschaftlich. Außerdem basierten die IBM-Lochkarten auf einer weitaus älteren Maschine: Holleriths Tabulatormaschine. Herman Hollerith erfand die Tabulatormaschine um 1890, um die US Volkszählung zu unterstützen.
Ab hier geht die Geschichte sehr verworrene Wege: Holleriths Lochkarten könnten auf den Lochkarten basieren, die Basile Bouchon um 1725 erfand, um seinen „automatischen Webstuhl“ zu steuern; damals noch einfaches perforiertes Papier. Bouchon hat sich für seine Entwicklung vermutlich am Standard für Banknoten orientiert: Um 1400 nutze man das Papierformat “British Imperial Foolscap“, um Banknoten zu drucken: Auf einer Seite wurden 8 Banknoten in 2 Spalten angeordnet. Man könnte nun noch etwas weiter gehen: Die Breite des Papiers lässt sich auf den Herstellungsprozess zurückführen: Die Spannweite der Arme der Arbeiter:innen während der Papierherstellung gibt ein natürliches Maß für die maximale Breite der Papierbögen vor.
Das Standardmaß „80 Zeichen pro Seite“ kann also, mit etwas Fantasie und Augenzwinkern, also auf die Spannbreite der Arme des Menschen zurückgeführt werden. Und das erinnert stark an die Herleitung der Durchmesser von Glasflaschen, der sich über Europaletten, die Spurbreite von Schienen schließlich auf die Breite von Pferdehintern zurückzuführen lässt: die sogenannte Pferdehintern-Geschichte (Horse Ass Story) — bei der es sich übrigens auch nur um eine urbane Legende handelt [PARO1].
Nachdem wir uns nun mühsam durch mehr als 600 Jahre Geschichte gekämpft haben, kommt ein klitzekleiner Dämpfer: Auch wenn 80 Zeichen pro Zeile weit verbreitet sind, werden mitunter auch 72, 79, 100, 132 oder gar 180 Zeichen pro Zeile gerne als Standard genutzt [WIKI18]. Und vermutlich versteckt sich hinter jeder dieser Angaben eine kleine Pferdehintern-Legende…