Table of Contents
Schrödingers Entropie?
Die Kombination von Asperger Autismus und ADHS (im Fachjargon übrigens Komorbidität genannt) führt zu einer interessanten Beobachtung, die ich “Schrödingers Entropie” nenne. Kurz: Das gleichzeitige Vorhandensein von kreativer Unordnung und dem dringenden Wunsch nach einem sortierten Ordnungssystem.
Asperger-Menschen berichten oft von einem für sie sehr typischen Symptom: Sie brauchen klare Prozesse und pflegen wiederkehrende Routinen. Jeden Morgen, 9.00 Uhr, 150 ML Apfelsaft. Vor dem Schlafengehen noch zwei Klimmzüge. Und so weiter.
Ich konnte diesen Drang zu festen Routinen nie nachvollziehen und habe mich lange gefragt, warum mir dieses Bedürfnis fehlt? Natürlich hat das auch meine Zweifel an der Diagnose bekräftigt.
Wenn ich aber genau hinschaue, gibt es dafür einen einfachen Grund: Diese sogenannte Komorbidität mit ADHS verhindert das Einhalten von Routinen. Tatsächlich ist der Wunsch danach ziemlich groß. Frühsport am Morgen, Pflanzen gießen am Abend, rechtzeitig ins Bett, Mittagessen nicht vergessen. Dies das Ananas.
(⊙_⊙')
Keine Aufmerksamkeit ist auch keine Lösung
In dem Moment, in dem ich das Bett verlasse, läuft mein Kopf auf Hochtouren. Ich denke an das Rabbit Hole, in das ich gestern Abend noch eingestiegen bin. Da mein Spezialinteresse die Informatik ist (Informatik, wie deutsch das klingt, nein warte, besser: EDV, VBA und so, wissen schon!), finde ich mich abends noch bis in die Nacht vor das Notebook gekauert wieder und morgens werfe ich mich - noch im Schlafanzug - als erstes vor die Kiste. Das Frühstück wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Kommt eine neue Aufgabe rein, ein neuer Impuls, per E-Mail, Nachricht oder einfach durch Serendipität, springe ich zur nächsten Aufgabe. Jedes Grundbedürfnis wird durch die Spezialinteressen übertrumpft.
Eine Morgenroutine, geschweige denn Tagesablauf, ist kaum denkbar. Gerade wenn man alleine wohnt und im Homeoffice arbeitet, fehlen äußere Einflüsse, die die Abläufe halbwegs stabilisieren (keine Sorge Arbeitgeber, das heißt nicht, dass ich nichts mache, sondern, dass ich den ganzen Tag etwas mache).
(◔_◔)
Fluch und Segen
Die Sache hat noch einen entscheidenden Nachteil - oder auch Vorteil, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet. Wenn mein Kopf nicht gefüttert wird, sucht er sich neue Aufgaben. So etwas wie Langeweile gibt es kaum. Das Warten auf eine E-Mail, die Antwort auf einen KI-Prompt, das Herunterladen von Paketen. In diesen Lücken suche ich nach neuem Futter oder arbeite andere Aufgaben ab.
Der Nachteil lauert im Detail und zeigt sich vor allem im beruflichen Umfeld, wo es nicht nur Lücken sind, die ich füllen kann: Ich steige sehr schnell aus, wenn mein Gegenüber das Gespräch mit Randnotizen garniert. Vor allem in “Marketing-Calls”, wenn ein Produkt vorgestellt werden soll und mit dem Bewerben des Unternehmens eingestiegen wird. Ich will keine Floskeln und Phrasen hören, sondern das Produkt in der Anwendung sehen. Das Problem: Dadurch gehen mir oft auch Informationen verloren.
In Meetings mit drei oder mehr Personen, in denen ich nicht im Fokus stehe, lasse ich mich schnell ablenken und wende mich anderen Dingen zu. In einem Gespräch mit nur einem Gegenüber, werde ich schon mal ungeduldig und nervös. Hier fehlt mir die soziale Kompetenz, mein Bedürfnis nach (für mich) relevanten Details zu signalisieren.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht eigentlich eine bemerkenswerte Gabe: Ich erkenne (vermeintlich) sehr schnell, wenn in einem Meeting zu viel Noise produziert wird oder es nur aus ChitChat besteht.
Steuere ich ein Meeting als Host selbst, geht es selten über die ganze Zeit, da ich mich nicht damit aufhalte, eben diese Randbedingungen zu erläutern, die ich für selbstverständlich halte. Es ist natürlich nicht immer sinnvoll geschweige denn höflich, Wissen als selbstverständlich vorauszusetzen.
Meine KollegInnen meinten früher sehr oft, dass ihnen schwindlig wird, wenn ich etwas am Computer erkläre und dabei in kaum nachvollziehbarer Geschwindigkeit zwischen Programmen wechsle, die Zwischenablage hin- und herkopiere und mit Shortcuts Funktionen ausführe.
Ich weiß, dass das überheblich klingt. Das soll es nicht. Mir ist durchaus bewusst, dass das Arbeiten mit mir sehr herausfordernd sein kann. Gabe und Fluch zugleich.
Ich bin darauf angewiesen, auf Kurs gehalten zu werden, um mich nicht in Rabbit Holes zu verirren, und hinterfragt zu werden, wenn ich Darstellungen verkürze.
(ง •̀_•́)ง
Wo ist nun der Aspi?
Aber wo ist dann der Aspi in mir geblieben? Tja…Der kümmert sich um andere Themen!
¯\_(ツ)_/¯
Denn Routinen gibt es nicht nur in der zeitlichen sondern auch in der räumlichen Dimension!
Die Struktur, die ich brauche, suche ich in der Organisation meines Umfelds, meines Arbeitsplatzes (im Sinne von Schreibtisch) und meiner Wohnung.
Ich hatte das Thema Ästhetik hier schon einmal angesprochen. Dabei geht es gar nicht darum, dass ich jeden Tag putze und aufräume und Bilder gerade rücke. Vielmehr geht es um die pragmatische Ordnung.
Ein schiefes Bild stört mich nicht. Wohl aber, wenn im Besteckkasten die Gabeln nicht links, die Messer rechts und die Löffel in der Mitte liegen. Alles andere ist unlogisch. Wenn Nudeln und Reis sich in unterschiedlichen Fächern befinden, macht mich das nervös. Für mich wäre das ein Grund, nachts aufzustehen und den Missstand zu beheben. Ein voller Tisch ist nicht unbedingt Gift für meinen Geist - solange alles sortiert ist.
Das klingt banal und irgendwie sogar normal, wer will nicht, dass alles seinen Platz hat. Wenn etwas diese Ordnung stört, kann es aber auch Folgen für mich haben, die sehr unangenehm sind.
Einerseits bin ich immer auf der Suche danach, diese Ordnung zu optimieren. Passt der Staubsauger besser hinter die Tür oder hinter den Vorhang? Gehören Putzsachen ins Bad oder unter die Spüle? Und hier zeigt sich das typische ADHS-Symptom: Der Fokus geht schnell verloren. Anstatt die Blumen zu gießen, habe ich den Kühlschrank umsortiert, weil ich einen Fehler im Ordnungssystem gefunden habe.
ԅ(≖‿≖ԅ)
Supermärkte!
Das klingt amüsant, kostet aber Energie. Denn nicht immer habe ich Einfluss auf die Ordnung um mich herum.
Supermärkte sind, nach meiner Auffassung, oft “unlogisch” aufgebaut. Ich werde extrem nervös, wenn Nudeln an drei verschiedenen Orten stehen - ja, das passiert. Warum bringt man Milch, Butter und Käse an fünf unterschiedlichen Orten unter? Ich werde sehr schnell unruhig und beginne sogar damit, vor mich hinzufluchen und wie aufgescheucht durch den Laden zu rennen.
Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich einen Schreibtisch reserviert hatte. Eine Kollegin war vor mir da und hatte diesen Platz schon besetzt. Eigentlich war das kein Problem, da genug andere Tische frei waren. Für mich war das eine Katastrophe - innerlich. Ich konnte nicht verstehen, wozu es ein Buchungssystem gibt? Ich musste an diesem Tisch sitzen, immerhin hatte ich ihn ja gebucht. Und außerdem sitze ich immer an diesem Tisch! Da ist sie also… die Routine, die ich brauche.
(╯°_°)╯︵ ┻━┻)
Kinder (jaja… jetzt geht das wieder los) neigen dazu, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Und das ist super, bin ich doch selbst jemand, der immer wieder neue verrückte Ideen hat.
Natürlich will ich auch meinem Sohn diese Freiheit geben, ohne Kompromisse! Aber dann kommt es schon mal vor, das sich diese Kreativität als - in meinen Augen Chaos - über mein System ergießt. Lego im Wäschekorb, Papierschiffregatta auf dem Sofa. Im Flur steht eine Armada von selbstgebauten Fahrzeugen Spalier. Kartonraumschiffe in der Küche. Mein Sohn bastelt gerne kleine Dinge für mich. Ich finde das wunderschön, weil er sehr kreativ ist. Diese kleinen, wunderbaren Geschenke sammeln sich in Bergen auf meinem Schreibtisch und ich vergöttere jedes einzelne davon, weil es bemerkenswerte Ausdrücke seiner Kreativität sind.
Doch all das erzeugt auch einen unfassbaren Noise, der beim Gang durch die Wohnung meine komplette Aufmerksamkeit erfordert. Jetzt achte ich nicht nur darauf, dass der Kühlschrank perfekt einsortiert ist, ich muss auch all die kleinen kreativen Werke meines Sohnes im Blick behalten und in mein Ordnungssystem einarbeiten.
Meine Sensorik reagiert darauf mit Müdigkeit, die in Extremfällen in einer Art Benommenheit umschlägt. Ich werde abgelenkt, kann mich nur schwer konzentrieren. Das emotionale Dilemma, all das zu wertschätzen und nicht mit Ignoranz oder gar Gereiztheit zu reagieren, erschwert die Lage gleichzeitig.
Schrödingers Entropie!
PhysikerInnen werden sich jetzt wahrscheinlich kopfschüttelnd abwenden, aber da ist sie nun: Schrödingers Entropie. Das kreative Chaos, als Folge der ständigen Ablenkung und kraftlosen Aufmerksamkeit, gekennzeichnet, gepaart mit dem dringenden Bedürfnis, Ordnung zu halten und eine Routine zu etablieren.
Übrigens, Fun Fact: Den Begriff “Schrödingers Entropie” gibt es eigentlich nicht. Es gibt allerdings die Idee der Entropie nach Schrödinger, die Negentropie (negative Entropie). Die Zunahme der Entropie ist die Ursache dafür, dass Organismen im Laufe der Zeit “zerfallen” - die Unordnung nimmt zu, ein bekanntes Konzept. Schrödinger sagt nun, dass durch die Aufnahme positiver Entropie aus der Umgebung der Zerfall “gebremst” werden kann - so wird eine “temporäre Ordnung” aufrechterhalten. Die Entropiezunahme wird an die Umgebung abgegeben, die dadurch “altert”. Da der Organismus als offenes System betrachtet wird, gilt auch der Energieerhaltungssatz weiter: Die Summe der Energie bleibt im System aus Organismus und Umgebung gleich. Du wurdest gerade Zeuge, wie ich durch Zufall in ein kleines Rabbit Hole gefallen bin, um diesen Begriff zu erklären.
Zusammenfassung
In diesem Artikel wird das Phänomen der 'Schrödingers Entropie' untersucht, das die gleichzeitige Existenz von kreativer Unordnung und dem Drang nach Ordnung beschreibt, insbesondere im Kontext von Asperger-Autismus und ADHS.
Hauptthemen: Autismus Asperger ADHS Neurodiversität Mentale Gesundheit Persönliche Entwicklung
Schwierigkeitsgrad: beginner
Lesezeit: ca. 8 Minuten